Sprachwandel in den Zuwanderungsgebieten von Flucht und Vertreibung.
Sprachgebrauch und Sprachwahrnehmung bei Alteingesessenen und immigrierten Vertriebenen in Mecklenburg seit 1945

Projektzeitraum: Mai 2020  – Juli 2022
Projektbearbeiter: Klaas-Hinrich Ehlers
Förderung: BKM

Flucht und Vertreibung von mehr als zwölf Millionen Menschen aus den östlichen deutschen Sprachregionen markieren die wohl bedeutendste Zäsur in der neueren deutschen Sprachgeschichte. Obwohl die Zuwanderung von Flüchtlingen und Vertriebenen in das Gebiet der späteren BRD und DDR dort die Struktur der Sprechergemeinschaften völlig umwälzte, sind die sprachlichen Folgen des jähen Immigrationsschubs für die Zuwanderungsgebiete bisher kaum je untersucht worden. Am Beispiel einer Untersuchungsregion im Norden Mecklenburgs, die von der Immigration nach dem Zweiten Weltkrieg besonders geprägt ist, soll diese Forschungslücke auf breiter empirischer Basis geschlossen werden.

Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die komplexen Sprachkontaktsituationen zu rekonstruieren, die sich durch die Zuwanderung auf dialektaler und umgangssprachlicher (regiolektaler) Ebene ergeben haben, und sie in ihren funktionalen Umschichtungen und evaluativen Umwertungen über die Nachkriegsjahrzehnte bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Hier ist u. a. zu fragen, inwieweit die Vertriebenenimmigration Veränderungen im individuellen, familiären und lokalen Sprachgebrauch ausgelöst und im Generationenvergleich zu neuen Spracherwerbs- und Sprachvermittlungsmuster geführt hat. Auch ist zu untersuchen, ob die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in ihrer Wahrnehmung der Kontaktvarietäten voneinander abweichen und inwieweit sich die varietätenbezogenen Spracheinstellungen der Probanden über die Nachkriegsjahrzehnte in ihren Bewertungskriterien und Evaluationen verschoben haben.

Empirische Grundlage der Untersuchung sind biographische und sprach­biographische Interviews, die zwischen 2010 und 2015 mit insgesamt 90 Vertriebenen und Alteingesessenen und deren Nachkommen geführt worden sind. Die inhaltsanalytische Auswertung dieses Korpus stellt eine tragfähige Grundlage dar für eine lokal, sozial und nach Varietäten differenzierende oral language history der Nachkriegsjahrzehnte. Archivrecherchen zur Sozialgeschichte der untersuchten Kommunikationsräume sollen die in den Interviews subjektiv erinnerte Geschichte der Vertriebenenimmigration und ihrer sprachlichen Folgen ergänzen und triangulieren.