Die Entdeckung der Muttersprache oder wie man spricht, so schreibt man? Normierungsstrategien "kleiner" Sprachen in Europa: Das Okzitanische, Jiddische und Belarusische

Projektleitung: Martina Niedhammer
Projektzeitraum: 2020-2023
Förderung: DFG

"Die Nationalität äußert sich praktisch in der Sprache, zumal in der gesprochenen Sprache (Muttersprache); die Statistik der Nationen wird nach Sprachen bestimmt, die Grammatiker untersuchen, inwieweit sich die Dialekte von wirklichen Sprachen unterscheiden."

(Masaryk, Tomáš G.: Nová Evropa (1920), zitiert nach der dt. Übersetzung von Emil Saudek (1922), 48)

In wenigen Sätzen bringt Tomáš G. Masaryk die in den Augen vieler seiner Zeitgenossen selbstverständliche Bedingtheit von Sprache und Nation auf den Punkt. Die Vorstellung des ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten von einer quasi naturgegebenen Verbindung zwischen dem Sprecher einer bestimmten Sprache und einer daraus ableitbaren nationalen Kategorie war jedoch auch außerhalb Ostmitteleuropas keine Unbekannte. Vielmehr gab es in ganz Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Versuche, „kleine“, bislang noch nicht oder nur marginal verschriftliche Sprachen zu standardisieren und zu kodifizieren.

Vorliegendes Projekt untersucht daher den Normierungsprozess dreier „kleiner“ europäischer Sprachen (Okzitanisch, Jiddisch, Belarusisch) aus kultur- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive interdisziplinär an der Schnittstelle von Geschichts- und Sprachwissenschaft. Damit möchte es einen neuen Blick auf nation und region building-Prozesse im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werfen. Zum einen stellt es den in der Forschung häufig ignorierten konstruktivistischen Charakter von Sprache in den Mittelpunkt, indem es nach den sprachplanerischen Strategien fragt, die Sprachaktivisten wählten, um „ihre“ Sprache gesellschaftlich zu verankern. Mithilfe verbindlicher Normen für Orthographie und Grammatik sowie gezielter Wortschatzanreicherung versuchten sie, einen einheitlichen Sprachstandard zu schaffen (Korpusplanung). Zugleich waren sie bestrebt, diesen Standard unter den Sprechern, die für den erweiterten Gebrauch ihrer meist nur mündlich verwendeten Muttersprache kaum sensibilisiert waren, durchzusetzen (Statusplanung). Zum anderen möchte das Vorhaben einem bis heute in der Nationalismus- und Regionalismusforschung geläufigen Trend entgegensteuern, der meist einen klaren Fokus auf West- oder Osteuropa legt, und stattdessen eine „Differenzbestimmung“ (Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard), eine systematisch vergleichende Untersuchung anhand ausgewählter Parameter, unternehmen. Diese kann, so die These, überraschende Ähnlichkeiten zwischen „westlichen“ und „östlichen“ Prozessen kollektiver sprachlicher Identitätsbildung aufzeigen und somit die Vielfalt nationaler und regionaler Sprachbewegungen als gesamteuropäisches Phänomen sichtbar machen.