Vielfalt ordnen. Föderalismusvorstellungen in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten

Projektzeitraum: August 2012 – September 2019
Projektleitung: Jana Osterkamp
Förderung: Emmy Noether-Nachwuchsgruppe der DFG

Was bedeutet Föderalismus für gesellschaftliche Vielfalt? Welche Bedeutung hat umgekehrt gesellschaftliche Vielfalt für föderale Ordnungsvorstellungen? Das sind die zentralen Fragen einer Gesellschaftsgeschichte des Föderalismus bzw. einer Föderalismusgeschichte "von unten".

Die Emmy Noether-Nachwuchsgruppe "Vielfalt ordnen. Föderalismusvorstellungen in der Habsburgermonarchie und deren Nachfolgestaaten" wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert und ist seit Mai 2012 am Collegium Carolinum angesiedelt.

Der Zugang zu Föderalismus über die Kategorien Nation, Wirtschaft, Religion und Region setzt neue programmatische Forschungsakzente. Während sich Föderalismusgeschichte als Rechtsgeschichte im deutschsprachigen Raum bislang am Souveränitätsdogma orientierte und eher staatsorganisatorische Fragen wie das Reich-Länder-Verhältnis behandelte, stand sie in der allgemeinen Historiographie im Zeichen des Nationalismusparadigmas. Ein Verständnis föderaler Ordnungsvorstellungen führt jedoch nur dann weiter, wenn auch jene wirtschaftlichen, konfessionell-religiösen und anderen Faktoren einbezogen werden, die für Föderalismus und für Föderalismuskonzepte in gleicher Weise prägend waren wie die nationale Frage.

In der Nachwuchsgruppe arbeiten eine Postdoktorandin und zwei Doktoranden zusammen. Die Nachwuchsgruppenleiterin Jana Osterkamp, Osteuropahistorikerin und Juristin, war zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main und in den letzten Jahren am Collegium Carolinum in München. Björn Lemke ist Wirtschaftshistoriker und hat in Berlin Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert. Sevan Pearson absolvierte als Osteuropahistoriker seine Ausbildung in den Fächern Geschichte, Politikwissenschaft und Osteuropastudien in Lausanne und München. Zeitlich sind zwei der Projekte in der Geschichte der Habsburgermonarchie angesiedelt, einmal auf die westliche Reichshälfte und einmal auf den Wirtschaftsraum Österreich-Ungarn bezogen. Das dritte Projekt thematisiert Föderalismus im Staatssozialismus am Beispiel von Bosnien und Herzegowina.

Ökonomische Ordnungsleistungen und wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen in Österreich-Ungarn 1897–1910.

Björn Lemke

Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn war ein ebenso ungewöhnliches wie interessantes staatliches Gebilde. Es verband Elemente einer bundesstaatlichen Ordnung mit solchen eines Staatenbundes. Die beiden im innenpolitischen Bereich weitgehend souveränen Teilstaaten hielt ein dünnes Band gemeinschaftlicher Aufgaben wie Außenpolitik und Verteidigung zusammen. Formal gestärkt wurde die Gemeinschaft durch eine Reihe "paktierter", auf intergouvernementalem Handeln beruhender Einrichtungen der Monarchie auf wirtschaftlichem Gebiet. Hierzu gehörten das Zoll- und Handelsbündnis sowie die gemeinsame Währung und Notenbank. Im politischen Alltag erwiesen sich diese – ebenso wie die Frage der Finanzierung der gemeinsamen Aufgaben – als Zankapfel zwischen beiden Teilstaaten. Eine gemeinschaftliche Aufsicht in wirtschaftlichen Fragen existierte nicht.

Angesichts dessen stellt das Projekt zwei Fragen: Welche praktischen Ordnungsleistungen erbrachte dieses institutionelle Setting zwischen ökonomischer Integration und wirtschaftspolitischer Autonomie vor dem Hintergrund der erheblichen wirtschaftlichen Unterschiede und der Nationalitätenkonflikte in der Habsburgermonarchie? Wie verhielt sich dieses Setting zu den zeitgenössischen Vorstellungen von guter ökonomischer und wirtschaftspolitischer Ordnung? Dem Projekt liegt dabei ein Verständnis von Institutionen zugrunde, das nicht nur deren sozial-regulative, sondern auch deren subjektiv-intentionale Funktionen umfasst. Institutionen beeinflussen nicht nur das gesellschaftliche Geschehen, sondern auch die korrespondierenden Sinnvorstellungen der Zeitgenossen. Dadurch wird Wirtschaftsgeschichte zugleich stärker als Kulturgeschichte gedacht. Es wird nunmehr nicht allein nach dem realökonomischen Output, sondern auch nach nicht-ökonomischen und nicht-intendierten Folgen eines bestimmten Settings ökonomischer Institutionen gefragt. Eine Arbeitshypothese des Projekts lautet, dass die Institutionen der Habsburgermonarchie ungeachtet ihrer Defizite durchaus leistungsfähig waren, aber dennoch nach den zeitgenössischen Vorstellungen von guter Ordnung zunehmend als schwach und ungenügend delegitimiert wurden. Die Quellengrundlage des Projektes bildet einerseits staatliches Archivmaterial, zum Beispiel der Handels- oder der Finanzministerien, andererseits zeitgenössisches Material mit ökonomischen und wirtschaftspolitischen Bezügen, zum Beispiel Verbandszeitschriften für die Analyse der Auseinandersetzung industrieller Verbände mit der dualistischen Wirtschaftsordnung und mit dem jeweils anderen Teilstaat.

Für das Spannungsfeld zwischen gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Integration einerseits und Vielfalt andererseits wurde Föderalismus häufig als mögliche politische, mit den ökonomischen Anforderungen allerdings inkompatible Lösung betrachtet. Als Teilprojekt der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe "Vielfalt ordnen. Föderalismusvorstellungen in der Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert" lässt das Dissertationsvorhaben daher relevante Erkenntnisse zur ökonomisch orientierten Auseinandersetzung um die bestehende Ordnung der Habsburgermonarchie, aber auch zu Alternativen des Dualismus erwarten.

Die Nationalitätenpolitik des Bosnischen Bundes der Kommunisten in Bosnien und Herzegowina 1960−1974.

Sevan Pearson (Projekt abgeschlossen)

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gründeten die Kommunisten die Föderative Volksrepublik Jugoslawien, die aus sechs Teilrepubliken bestand. Diese besaßen jeweils eine Titularnation, z.B. die Slowenen Slowenien. Nur Bosnien und Herzegowina stellte eine Ausnahme dar: Neben Serben und Kroaten lebten slawische Muslime. Ihr nationaler Status blieb ungeklärt, bis sie schrittweise von 1961 bis 1974 als sechstes Volk in Jugoslawien anerkannt wurden. Dieser Prozess stand im Mittelpunkt der Nationalitätenpolitik des Bundes der Kommunisten Bosnien und Herzegowinas (BdKBiH), der das Selbstbestimmungsrecht der Muslime gewähren wollte, ohne das heikle Gleichgewicht in den interethnischen Beziehungen zwischen Serben, Kroaten und Muslimen zu gefährden. Des Weiteren wurde der BdKBiH in dieser Periode mit unterschiedlichen nationalistischen Forderungen der drei Völker konfrontiert. Die komplexe Nationalitätenpolitik des BdKBiH zwischen 1960 und 1974 ist bis dato nur marginal erforscht und stellt das Vorhaben dieses Dissertationsprojekts dar. Das Quellenmaterial besteht u.a. aus Akten des BdKBiH,  z.B. des Exekutivbüros oder der Kommission für interethnische Beziehungen.

Wem gehört Bosnien?
Die Nationalitätenpolitik der Kommunisten in Bosnien und Herzegowina, 1943-1974
https://www.ibidem.eu/de/wem-gehoert-bosnien.html

Eine Gesellschaftsgeschichte des Föderalismus. Föderale Ordnungsvorstellungen in der Habsburgermonarchie

Jana Osterkamp [Übersetzungen]

Die Habsburgermonarchie war im langen 19. Jahrhundert ein Laboratorium für föderale Ordnungsvorstellungen. Das Habilitationsvorhaben von Jana Osterkamp widmet sich diesem Phänomen über die vier thematischen Zugänge Nation, Wirtschaft/Finanzen, Religion und Region.

Mit Blick auf die gesellschaftliche Heterogenität des Habsburgerreiches betont das Projekt das integrative und befriedende Potential von föderalen Strukturen. Weder werden Föderalismusideen ausschließlich als zentrifugal-separatistisch, noch werden bestehende Ungleichheiten von vornherein als defizitär gedeutet. In den föderalen Ordnungsvorstellungen jener Zeit zeigt sich vielmehr ein mitunter überraschend modernes Herrschaftsverständnis. Auf überlappenden Loyalitäten und Identitäten aufbauende Sowohl-als-auch-Zugehörigkeiten der Staatsbürger waren ebenso Thema wie Ideen einer Integration durch Recht und Institutionen. Die geplante Föderalismusgeschichte leistet damit auch einen Beitrag zu der in neueren Forschungen aufgeworfenen Frage, warum das Habsburgerreich so lange bestehen konnte.

Föderale Ideen in der Habsburgermonarchie wurden durch die Gesellschaft selbst generiert und sind nicht nur als Notnagel staatlicher Schadensbegrenzungspolitik zu interpretieren. Dies hat wesentlich zu ihrer Popularität und hohen Akzeptanz beigetragen. Für die Analyse wird auf politik- und rechtswissenschaftliche Ansätze zu Föderalismus in supranationalen Ordnungen und konzeptionelle Fragen nach Loyalität und Moderne zurückgegriffen. Sie beruht auf den in der bisherigen Forschungsliteratur zum Föderalismus ausgewerteten gedruckten Dokumenten sowie – in größerem Umfang – auf Archivquellen sowie Reichsrats-, Landtags- und Verwaltungsprotokollen.

Das Projekt legt einen Schwerpunkt auf die Kategorien Nation, Region, Wirtschaft bzw. Religion:

Nation und Föderalismus: Die Nationalitätenfrage hat die bisherige Föderalismusforschung zur Habsburgermonarchie und auch den Nachfolgestaaten bestimmt. Die Föderalismusentwürfe der Nationalitäten gerieten dabei regelmäßig in den Verdacht, separatistische Ziele zu verfolgen. Es ist vielversprechend, solche Wertungen mit dem Instrumentarium der aktuellen Politikwissenschaft zu hinterfragen. Diese unterscheidet zwischen multiethnischem und multinationalem Föderalismus: Der eine befördert eher Assimilation und Integration, der andere eher Separation.

Region und Föderalismus: Gesellschaftliche Vielfalt auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie war eine Vielfalt in der Vielfalt. Ethnische, konfessionelle, wirtschaftliche und soziale Unterschiede hatten jeweils andere regionale Verlaufsmuster: Einheiten mit ethnischer Homogenität konnten, mussten sich aber nicht, mit Einheiten konfessioneller Homogenität decken. In föderalen Entwürfen tauchen manche Regionen (Galizien oder Mähren) daher in verschiedenen Zusammenhängen historischer, nationaler oder konfessioneller Art auf.

Wirtschaft und Föderalismus: Es stellt sich drittens die Frage, welchen Einfluss wirtschaftliche Infrastrukturen auf föderale Reformvorstellungen hatten. Wie wurden die sehr ungleichen Wirtschaftsräume berücksichtigt? Ein anderer Punkt ist das Verhältnis von staatlicher Wirtschaftsverfassung und föderaler Ordnung. So hatte die fiskalische Aufgabenverteilung auf Länderebene in der Habsburgermonarchie zuletzt quasi-föderale Züge. Um die Jahrhundertwende waren ein "Finanzausgleich" und eine Solidarhaftung der Länder im Gespräch.

Religion und Föderalismus: Das Interesse an der Wechselbeziehung zwischen Religion und Föderalismus ist ideengeschichtlich. Das Denken von gesellschaftlicher "Subsidiarität", das von der katholischen Soziallehre entwickelt wurde, ist paradigmatisch für Föderalismustheorien geworden. Daneben sollen protestantische Einflüsse und jüdische Selbstverwaltungsideen untersucht werden. Außerdem wird gefragt, inwiefern die territoriale Binnengliederung föderaler Ordnungsentwürfe durch konfessionelle Präferenzen beeinflusst wurde.