Die Transformation der Erinnerung an die Zwangsmigrationen des Zweiten Weltkriegs im Lokalen. Orte, Themen und Akteure in postsozialistischen Industriestädten.

Projekleitung: K. Erik Franzen
Projektlaufzeit: 2013−2015
BKM-Förderung

Publikation

Migration und Krieg im lokalen Gedächtnis. Beiträge zur städtischen Erinnerungskultur Zentraleuropas.

Das vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderte Projekt untersucht die Veränderung von lokalen Erinnerungskulturen nach dem Systemwechsel des Jahres 1989 in ausgewählten postsozialistischen Städten. Im Mittelpunkt steht die Frage, in welcher Beziehung Erinnerungen verschiedener lokaler gesellschaftlicher Gruppen an Migrationen des Zweiten Weltkrieges zueinander stehen. Haben sich bestimmte gesellschaftliche Akteure mit ihrer Erinnerung und Interpretation der Geschichte einer bestimmten „Migrantengruppe“ durchgesetzt?


Die ausgewählten mittel- und ostmitteleuropäischen Industriestädte Hoyerswerda, Ústí nad Labem, Košice und Łódź zeichnen sich dadurch aus, dass sie Zentren von Wanderungsbewegungen waren und durch den Weg- und Zuzug verschiedenster Bevölkerungsgruppen aufgrund unterschiedlicher Ursachen und Motive geprägt sind. Hierzu zählen Fluchtbewegungen, Zwangsmigrationen des Zweiten Weltkrieges wie Arbeitseinsatz, Deportation von Juden und anderen Gruppen, Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg und Ansiedlung der Vertriebenen, aber auch die Arbeitsmigrationen insbesondere im Zuge der sozialistischen Industrialisierungsprozesse.


Ausgehend von einer sich nach 1989 neu formierenden pluralen und demokratischen städtischen Gesellschaft und vor dem Hintergrund nunmehr überholter historischer (Master-)Narrative der staatssozialistischen Zeit werden erstens die Erinnerungsinteressen lokaler Gruppen analysiert: Stehen die Erinnerungen an verschiedene kriegsbedingte Zwangsmigrationen in Konkurrenz zueinander? In welchem Verhältnis zueinander stehen etwa die Erinnerungen an das Schicksal von deutschen Vertriebenen und das Andenken an das Schicksal der Zwangsarbeiter im städtischen und regionalen Raum? Werden sie insgesamt überlagert durch Erinnerungen an die massenhafte Arbeitsmigration im Staatssozialismus und den damit verbundenen Urbanisierungsschub in der Region?


Basierend auf einer Konzeptualisierung von „Gedächtnis als Politik“ soll damit zweitens vergleichend nach den Erinnerungshoheiten von lokal wirkenden Akteuren wie örtlichen Parteien, migrantischen und nicht-migrantischen Vereinen, (Bürger-)Initiativen sowie städtischen Institutionen und Einrichtungen wie Stadträten, Museen und Archiven gefragt werden: Konkrete Auseinandersetzungen um die „richtige“ Erinnerung an kriegsbedingte Zwangsmigrationen nach 1989 und weitere Migrationsprozesse in dem nun von unterschiedlichen Machtressourcen bestimmten lokalen Handlungsfeld von Industriestädten stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen. Damit rücken die medial vermittelten kollektiven Erinnerungsakte (Gedenkveranstaltungen, öffentliche Reden, schriftliche Dokumente, Ausstellungen) ins Zentrum der Beobachtung.


Nicht zuletzt gilt es drittens, die Wechselwirkungen zwischen lokalen zivilgesellschaftlichen Erinnerungsgruppen, städtischen Einrichtungen und individuellen Erinnerungsakteuren zu untersuchen, um über den sozialen Kontext und die tatsächlichen Machtverhältnisse im Lokalen hinaus Strategien und Kalküle der Konstruktion von Erinnerung in postsozialistischen Gesellschaften zu beschreiben. Inwiefern spiegeln sich im lokalen Raum dabei die nationalen „großen“ Debatten über (Zwangs-)Migrationsprozesse, oder bilden sich in den Städten zumindest partiell „eigenständige“ Erinnerungsformen heraus? Spezifische Unterdrückungs- und Leiderfahrungen während der kommunistischen Ära dominieren nach 1989 das Erinnern im lokalen Raum – so die Hypothese.

Schmelztiegel Hoyerswerda? Lokale Erinnerungsprozesse in einer postsozialistischen Industriestadt seit 1989

Dr. K. Erik Franzen

Im Zuge der Turbo-Industrialisierung der DDR ab den fünfziger Jahren wurde aus der Kleinstadt Hoyerswerda die „zweite sozialistische Stadt“ nach Eisenhüttenstadt. Die Errichtung des Kohleveredelungskombinats „Schwarze Pumpe“ im Bezirk Cottbus (Grundsteinlegung 1955), die größte industrielle Investition in der DDR der späten fünfziger und der sechziger Jahre, versprach Arbeitsplätze und Wohnraum. Das nahe gelegene Hoyerswerda wurde zur Wohnstadt der „Schwarzen Pumpe“ im Plattenbaustil mit schließlich circa 70.000 Menschen ausgebaut – unter ihnen viele Vertriebene zumeist aus Schlesien und aus der Tschechoslowakei.

Die Migrationsstadt Hoyerswerda wurde zur Planstadt einer politischen Ideologie: ein „neuer Raum“ für „neue Menschen“. Mit dem Ende des Kalten Krieges begann eine Phase der Transformation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im neuen Deutschland. Hoyerswerda wurde zur „shrinking city“: Die Einwohnerzahl der Stadt betrug 2011 nur noch 36.000.

Vor dem Hintergrund einer sich nach 1989 formierenden pluralen und demokratischen städtischen Gesellschaft und im Kontext historischer (Master-)Narrative der staatssozialistischen Zeit wird nach Erinnerungsprozessen gefragt, die sich im Wechselspiel lokaler Akteure (örtliche Parteien, migrantische und nicht-migrantische Vereine, (Bürger-)Initiativen sowie städtische Institutionen und Einrichtungen) vollzogen haben. Damit rücken medial vermittelte kollektive Erinnerungsakte (Gedenkveranstaltungen, öffentliche Reden, schriftliche Dokumente, Ausstellungen) ebenso ins Blickfeld wie verbandsinterne Aushandlungen von Erinnerung.

Inwiefern spiegeln sich im lokalen Raum dabei die nationalen „großen“ Debatten über (Zwangs-)Migrationsprozesse und Kriegsereignisse? Bilden sich in Hoyerswerda zumindest partiell „eigenständige“ Erinnerungsformen heraus? Welche Funktion besitzen die Erinnerungen an die ausländerfeindlichen Ausschreitungen vom September 1991, die Hoyerswerda zum Synonym rechtsextremer Gewalt im Osten der BRD werden ließen? Wie verhält es sich mit Unterdrückungs- und Leiderfahrungen während der kommunistischen Ära? Zudem gilt es die kollektiven Erinnerungen der 1912 in Hoyerswerda gegründeten „Domowina“ (Bund Lausitzer Sorben) zu beachten.

 

K. Erik Franzen

Transformationen in der Erinnerungspolitik an unfreiwillige Migrationen im Kontext des Zweiten Weltkriegs: Košice nach 1989

Adam Gajdoš

Zwischen 1938 und 1947 änderte sich die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung von Košice dramatisch. Diese Veränderungen waren zu einem großen Teil auf mehrere Wellen von unfreiwilligen Migrationen zurückzuführen. Die tschechischen und slowakischen Bewohner der Stadt flohen nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch und der anschließenden Besetzung der Stadt durch die ungarische Armee im Herbst 1938; die jüdische Bevölkerung wurde 1944 deportiert; und Ungarn und Deutsche wurden nach dem Krieg (teilweise) vertrieben. Am Ende der 1940er Jahre war Košice kulturell und ethnisch wesentlich homogener als am Vorabend des Krieges.

 

Das Ziel meiner Forschung ist es, die bestehende Pluralität der Erinnerungskulturen rund um die unfreiwilligen Migrationen im Zeitraum 1938-1947 in Košice sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene zu erforschen und zu analysieren, wie sie im breiteren Kontext von Minderheitengeschichten und Gedenkpraktiken in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg miteinander verknüpft sind. Basierend auf den Berichten von Zeugen und Teilnehmern des Erinnerungsprozesses und anderen verfügbaren Daten wird das Projekt versuchen, die Entwicklung der Erinnerungspolitik in den letzten drei Jahrzehnten nachzuvollziehen und die zugrunde liegenden Spannungen und Dilemmata zu beschreiben, die diese Entwicklung geprägt haben. Die Untersuchung der jüngsten Transformationen in Erinnerungskulturen umfasst drei grundlegende (und weitgehend miteinander verbundene) Untersuchungsebenen: 1) individuelle Erinnerungen/Erinnerungen und die Familientraditionen der von unfreiwilliger Migration Betroffenen; 2) Erinnerungskulturen, die sich auf spezifische ethnische Gemeinschaften und ihre Organisationen beziehen und von diesen verwaltet werden; 3) die offizielle historische Erzählung, wie sie sich in der Kommunalpolitik, in öffentlichen Institutionen und öffentlichen Räumen widerspiegelt.

 

Die wichtigsten Forschungsfragen sind:

Wie erinnern sich die von der unfreiwilligen Migration zwischen 1938 und 1947 betroffenen Familien an das Leben in oder außerhalb von Košice in dieser Zeit? Wie wird diese Erinnerung an die jüngeren Generationen weitergegeben?

Welche Rolle haben zivilgesellschaftliche Organisationen bei der Ausgestaltung und Förderung gruppenspezifischer Erinnerungskulturen gespielt?

Wie hat sich die offizielle kommunale Politik, die sich mit Erinnerungspflege, Denkmalschutz und kulturellen Institutionen im Allgemeinen beschäftigt, in den letzten 30 Jahren entwickelt? Welche Art von Botschaften vermitteln öffentliche Räume und öffentliche Institutionen?

Der Wandel der Erinnerungskultur in Łódź nach 1945

Ulrike Lang

Die systematische Entwicklung von Łódź zu einem Zentrum der Textilindustrie in Mitteleuropa setzte bereits 1820 ein. Der wirtschaftliche Aufschwung und das rasante Bevölkerungswachstum leisteten einer raschen Mythisierung der Stadt als „Manchester des Ostens“ Vorschub.

1899 erhielt Łódź mit Władysław Reymonts „Das Gelobte Land“ seinen eigenen Roman, der den nachhaltig negativen Ruf der Stadt begründete. Zugleich markieren die Anfänge des industriellen Łódź den Beginn seiner aus Polen, Deutschen, Juden und Russen bestehenden polyethnischen Stadtgesellschaft. Der Zweite Weltkrieg, einhergehend mit deutscher Okkupation und der Einrichtung des Gettos Litzmannstadt, setzte dieser Entwicklung ein Ende. Vertreibungen, Umsiedlungen sowie die Deportation und Vernichtung der Juden veränderten die Bevölkerungszusammensetzung nachhaltig.

Nach 1945 wurde Łódź reindustrialisiert und für die Aufbaugeneration der 1950er Jahre zum neuen Gelobten Land – dieses Mal unter sozialistischen Vorzeichen. Nach dem Niedergang der Textilindustrie zu Beginn der 1990er Jahre erwuchs die Notwendigkeit einer Neuaneignung der Lokalgeschichte. Unter verschiedenen offiziellen und privaten Akteuren mit jeweils spezifischen Intentionen setzte die Rezeption der vormals verschwiegenen und von der sozialistischen Großerzählung überlagerten jüdischen, deutschen und russischen Erinnerung an Łódź ein.

In dem Dissertationsvorhaben gilt es zu ermitteln, wie in Łódź die Arbeitsmigrationen zweier Industrialisierungen – im 19. und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – im Verhältnis zu den Zwangsmigrationen des Zweiten Weltkriegs erinnert werden. Der markanteste Erinnerungsort hinsichtlich der nationalsozialistischen Besatzung ist zweifellos das ehemalige Getto. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind in der Erinnerung an die verschiedenen Opferkollektive (Juden, Roma, polnische Kinder und Jugendliche) nach 1945 zu verzeichnen? Wie verhält sich das Gedenken an das Getto zur Erinnerung an Vertreibungs-, Flucht- und Ansiedlungsprozesse anderer Gruppen wie der Deutschen und der „Repatrianten“ aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten?

In jüngster Zeit wurde die Herausbildung einer positiven lokalen Identität, die auf das (verklärte?) Bild einer toleranten, multikulturellen Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurückgreift, für Łódź zu einem Element der Image-Konstruktion und des Stadtmarketings. Eine Gedächtnispolitik, die den Maßgaben der „heritage“-Produktion gehorcht, lässt jedoch – so die These – andere, insbesondere schmerzhafte, Erinnerungsstränge in den Hintergrund treten.

Erinnerung im lokalen Raum - das Beispiel Ústí nad Labem nach 1945

Frauke Wetzel

Das Projektvorhaben befasst sich mit Repräsentationen und Praktiken der tschechischen Neuaneignung des böhmischen Grenzlandes (pohraničí) 1945 bis zur Gegenwart. Im Vordergrund steht dabei die Konstruktion lokaler, regionaler und nationaler Identitäten.

Untersucht wird dieser Prozess, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Wiedereingliederung der 1938 an Deutschland abgetretenen tschechoslowakischen Randgebiete einsetzte, am Beispiel der nordböhmischen Stadt Ústí nad Labem. Der größte Teil der deutschsprachigen Einwohner war ausgesiedelt worden, nur ein Viertel der Bevölkerung hatte bereits vor Ende des Zweiten Weltkrieges in der Stadt gelebt. Neue Bewohner mussten geworben werden oder kehrten aus dem Binnenland zurück.

Analysiert werden die damit verbundene Neudeutung der lokalen und regionalen Vergangenheit in Erzählungen, Symbolen, kulturellen Einrichtungen und Geschichtsdarstellungen sowie die Gedächtnispolitik vor allem in Bezug auf die Spannung zwischen zentralen Vorgaben, lokaler Umsetzung und alltäglicher Adaption.

Veranstaltungen

  • Internationaler Workshop "Die Transformation der Erinnerung nach 1945. Stadt, Migration und Erinnerung im europäischen Vergleich" (14.-15. Oktober 2013, Košice). Programm; Konferenzbericht
  • Internationale Konferenz "Isolated or Entangled Histories? Migration erinnern in regionalen und lokalen Kontexten“ (3.-5.12.2015, Ústí nad Labem) Flyer/ProgrammKonferenzbericht
  • Internationale Gesprächsreihe "Wem gehört die Erinnerung? Migration und regionales Gedächtnis" (Dezember 2015 bis Februar 2016, Łódź - Ústí nad Labem - Hoyerswerda - Košice) Flyer/Programm