Geschichtsforschung gegen alle Widerstände: Der Mediävist František Šmahel (1934–2025)
Manche Curricula bieten Stoff für mehrere Leben: Zu zahlreich sind die erlebten Umbrüche, zu groß die daraus resultierenden persönlichen Herausforderungen. In besonderem Maße gilt dies für den Lebensweg des tschechischen Historikers František Šmahel, der durch die rasanten politischen Entwicklungen Ostmitteleuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt war und dennoch sein Leben gegen alle Widerstände in den Dienst der mediävistischen Geschichtsforschung stellte. Mit seiner Leidenschaft für das Studium mittelalterlicher Quellen und seinem breiten Interesse an politischen, religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Themen der böhmischen Geschichte wurde František Šmahel zu einem der profiliertesten Mittelalterforscher seiner Generation.
František Šmahel wurde 1934 in Trhová Kamenice im böhmisch-mährischen Bergland geboren. Wie er selbst 2018 in einem Interview mit der Mediävistin Pavlína Rychterová schilderte,[1] ließ sein familiäres Umfeld nicht unbedingt eine glänzende akademische Karriere erwarten: Die Eltern betrieben einen Dorfladen in Kamenice und unterstützten die Großeltern bei deren landwirtschaftlicher Tätigkeit. Aus dieser Perspektive erlebte der junge František Šmahel den Einmarsch deutscher Soldaten 1939, die Deportation der jüdischen Bevölkerung 1941, den Einzug der Sowjetarmee 1945 sowie die kurze Regierung unter Edvard Beneš. Eindringlich beschrieb Šmahel später die Ängste vor Ausgrenzung, Diskriminierung und Inhaftierung, die auch vor seiner Familie nicht Halt machten. So wurde ihm nach dem Schulabschluss (1953) der Wunsch, Geschichtswissenschaften in Prag zu studieren, verwehrt - wohl wegen der kurz zuvor erfolgten, politisch motivierten Inhaftierung seines Onkels. Das Angebot, stattdessen ein Chinesisch-Studium aufzunehmen, schlug Šmahel aus: lieber wollte er auf den ersehnten Studienplatz der Geschichtswissenschaften warten und überbrückte das Wartejahr als Bergarbeiter in Ostrava.
Diese Entscheidung scheint paradigmatisch für Šmahel, der in den folgenden Jahrzehnten mit beeindruckender Konsequenz auch ungewöhnliche Wege einschlug, um mediävistische Geschichtsforschung zu betreiben. Nach dem Studium an der Universität Prag (1954-1959) arbeitete er zunächst als Museumsdirektor in Litvínov, bevor er 1964 eine Stelle am Institut für Geschichte der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften erhielt. Durch eine Anregung Josef Maceks nahm Šmahel nicht wie geplant Forschungen zum Frühmittelalter, sondern zum 15. Jahrhundert auf - und fand so beinahe zufällig zu jenem Forschungsthema, für das er der führende Experte werden sollte: die Hussitenkriege und ihre Bedeutung für das Königreich Böhmen. Während er in frühen Studien ausgewählte Akteure und Themenschwerpunkte näher beleuchtete (so etwa das Wirken des Hieronymus von Prag oder frühe Konzeptualisierungen des Nationenbegriffs), sollte er zu Beginn der 1990er Jahre eine meisterhafte Synthese seiner jahrzehntelangen Forschungsarbeiten zu den Hussiten vorlegen: In seinem vierbändigen Werk „Husitská revoluce“ (2002 bei den Monumenta Germaniae Historica in drei Bänden unter dem Titel „Die Hussitische Revolution“ erschienen) analysierte Šmahel religiöse Reformen, die Entstehung unterschiedlicher Protestformen, militärische Auseinandersetzungen und sozio-kulturelle Entwicklungen Böhmens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
Durch die Akademietätigkeit bei Josef Macek und František Graus profitierte Šmahel auch von deren Auslandskontakten, so etwa zu Ferdinand Seibt, dem späteren Vorsitzenden des Collegium Carolinum. Genau diese Auslandsbeziehungen wurden Šmahel während der auf den „Prager Frühling“ (1968) folgenden „Normalisierung“ jedoch zum Verhängnis: 1974 wurde er gekündigt. In den nächsten Jahren verdiente er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie als Straßenbahnfahrer in Prag. Dieser ungewöhnliche Schritt und vor allem der bemerkenswerte Pragmatismus, mit dem Šmahel später darauf blickte, führten zu legendenhaften Erzählungen vom Tramfahrer, der stets die neusten wissenschaftlichen Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte studierte. Erst 1990 (zuvor hatte Šmahel am Hussitenmuseum in Tábor gearbeitet) durfte er seine Tätigkeit an der Akademie der Wissenschaften in Prag wieder aufnehmen: Nun wurde er Direktor des Instituts für Geschichte und gründete wenig später mit strategischem Weitblick und wachem Gespür für interdisziplinäre Forschungsansätze das bis heute bedeutende Zentrum für Mediävistische Studien (Centrum medievistických studií), dem er bis 2004 als Direktor vorstand.
Zahlreiche Auszeichnungen und Ämter bezeugen die hohe Wertschätzung, die Šmahel in Tschechien und anderen Ländern genoss, so auch in Deutschland. Nach Gastprofessuren und Forschungsaufenthalten wurde er im Jahr 1994 zum Mitglied des Collegium Carolinum gewählt. 2021 erschien in den „Veröffentlichungen des Collegium Carolinum“ ein Sammelband mit Aufsätzen, die Šmahel zwischen 1984 und 2017 in unterschiedlichen Zeitschriften und Sammelbänden publiziert hatte.[2] Eindrucksvoll demonstriert diese Zusammenschau die profunde Gelehrsamkeit Šmahels, seine konsequente Quellenarbeit und seinen Blick auf das spätmittelalterliche Böhmen und seine Nachbarregionen. Zu weiteren Forschungsschwerpunkten gehörten die Geschichte der Universität Prag, der frühe Humanismus, politische Rituale sowie spätmittelalterliche Kommunikationsmedien; dabei nahm Šmahel immer wieder auch rezeptionsgeschichtliche Fragen und die Entwicklung seines Faches im 20. und 21. Jahrhundert kritisch in den Blick.
Mit seinem leidenschaftlichen Engagement für die Mediävistik wurde Šmahel zum Vorbild für Viele, die bei ihm studierten oder mit ihm arbeiteten. Bis heute schwärmen Studierende sowie Kolleginnen und Kollegen von der wissenschaftlichen Strahlkraft, der herausragenden Fähigkeit als akademischer Lehrer und dem humorvollen Intellekt dieses herausragenden Mediävisten, der für die Geschichtsforschung so viele Widerstände zu überwinden hatte. František Šmahel starb am 05. Januar 2025 im Alter von 90 Jahren.
Julia Burkhardt (München)
[1] Pavlína Rychterová/Gábor Klaniczay/Paweł Kras/Walter Pohl (Hg.): Times of Upheaval. Four Medievalists in Twentieth-Century Central Europe. Conversations with Jerzy Kłoczowski, János M. Bak, František Šmahel and Herwig Wolfram, Budapest/New York 2019. Das Interview mit František Šmahel findet sich (mit einer kurzen Einleitung) auf S. 195-309.
[2] František Šmahel, Europas Mitte in Bewegung: Das Königreich Böhmen im ausgehenden Mittelalter. Mit einem Vorwort von Thomas Krzenck (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 143), München 2021.